Der Ausgang

Es gab ein Zimmer in meinem Haus, das ich kaum kannte...

Ich besuchte es nur hin und wieder in meinen Träumen. Keine guten Träume waren das, obwohl gar nicht viel in ihnen passierte. Doch in mir geschah um so mehr, denn jedes einzelne Mal kroch eisige Angst in mir hoch:
Mein Haus war viel größer, viel verwinkelter und viel kälter, als ich es gewusst hatte, und es roch modrig in dem vergessenen fensterlosen Raum, in den aus einer unbekannten Quelle neblig-kaltes synthetisches Licht sickerte. Und so kauerte ich mich ein jedes Mal in eine Ecke und sah mich ängstlich um, fror in der Feuchtigkeit, die sich in großen Placken an den Wänden festgesetzt hatte, und suchte mit den Augen vergeblich den Ausgang aus dem Winkel meines Lebens, den ich nicht wahrhaben wollte.

Wenn ich erwachte, nahm ich jedes Mal eine fröstelnde Gewissheit mit in den Tag, die lange anhielt. Immer kostete es mich einige Anstrengung, wieder warm zu werden in meinem Alltag, der mir doch immerhin einige Sicherheit gab mit seinen stupiden Ritualen.

Dann kam die Nacht, in der sich der Traum ein einziges Mal vom gewohnten Muster unterschied. Es war zugleich das letzte Mal, dass ich ihn träumte. Ich muss dazu sagen, dass der Tag davor mich bereits etwas aus der Fassung gebracht hatte, denn in meiner Nachbarschaft war schon vor längerer Zeit ein Mensch verschwunden. Ermordet worden sollte er sein, doch man hatte ihn bisher nicht gefunden. An diesem Tag nun war die Polizei zu mir gekommen und hatte mir unangenehme Fragen gestellt – wie oft ich mit ihm gestritten hätte, ob es denn wahr sei, dass er mich ständig beobachtet und gegängelt hätte, ob es stimme, dass er sich auf meinem Grundstück herumgetrieben und meine Rosen geköpft hätte und vieles mehr. Zu meinem Entsetzen war es ganz offensichtlich, dass sich mich verdächtigten, ihn auf dem Gewissen zu haben. Doch das war schließlich rein, und folgerichtig konnte man mir nichts anhaben.
Endlich gingen die Polizisten wieder. Zu allem Übel zertrampeltem sie beim Hinausgehen einige meiner fleißigen Lieschen am Gartenweg, und ich musste an mich halten, sie dafür nicht zu verprügeln. Zum Glück fiel mir rechtzeitig ein, dass sie im Zweifelsfall mächtiger sein würden als ich, und es gelang mir mit aller Kraft, mich zurückzuhalten. Doch von da an brannte der Hass in mir, und nichts konnte ihn löschen oder lindern. Fast sehnte ich mich in das feuchtkalte Zimmer aus meinen Träumen zurück.

Als ich mich dann wiederfand in diesem Traum, war zuerst alles wie immer. Ich kauerte mich fröstelnd in die Ecke und schaute suchend umher, und es war womöglich noch kälter und feuchter geworden. Dann erzitterte ich, denn mein Blick fing etwas ein, was ich bisher nie wahrgenommen hatte: einen Ausgang aus dem Zimmer, eine Tür ...

Lange starrte ich sie an, unfähig, mich zu rühren, und mit einem Mal hörte ich die Stimme meines toten Nachbarn, doch schien sie nicht real, sondern irgendwoher aus einem anderen Raum oder einer anderen Zeit kommend ... Da erhob ich mich und ging schweren Schrittes auf die Türe zu, und je näher ich kam, desto kälter wurde mir. Ich berührte die Klinke ...

Als man ihn fand, lag er hinter der einzigen Tür. Sie war offen. Sie war immer offen gewesen.

© Christiane Hartmann
Erschienen in Anthologie – "Wie der Eiffelturm zu seinem Knoten kam", ISBN 3-00-017711-6