Am Anfang war Erziehung

Mein Mann hat vor einen halben Jahr in Frankfurt am Main die Leitung eines Wohnheims für Obdachlose übernommen. Er ist völlig begeistert von seiner neuen Arbeit und erzählt mir immer sehr viel davon, vor allem über Wolfgang, den Hausmeister und die Seele dieser Einrichtung. Dieser hat meinem Mann erzählt, dass er keine gute Kindheit und als Jugendlicher auf der Straße gelebt hatte. Mit Mitte zwanzig hat Wolfgang dann Menschen gefunden, die ihm halfen, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Er hat seinen Schulabschluss nachgemacht und eine Ausbildung als Schreiner abgeschlossen. Bei einem der Gespräche haben mein Mann und Wolfgang dann festgestellt, dass wir im gleichen Ort in Bayern aufgewachsen sind. Als mir mein Mann davon berichtete, hatte ich keine Ahnung, von wem er sprach. Ich war aber neugierig geworden.
Am Tag der offenen Tür ist mir Wolfgang dann wieder begegnet und mit ihm die Geschichte, die wir geteilt haben. Zuerst erkannte ich ihn nicht. Ich sah nur einen Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit einem vom Leben gezeichneten Gesicht, der mich mit einem „Hallo Ingrid“ begrüßte. Als ich in seine strahlenden Augen sah und er „Grundschule, Fräulein Maus, die Bank neben dir“ sagte, erkannte ich ihn. In mir stiegen viele Bilder auf.
Ich konnte kaum glauben, dass dieser warmherzige Mann mein finsterer Nachbar aus der ersten Klasse sein sollte. Das erste Bild, welches hochkam, war unser Klassenfoto. Wir, die ABC-Schützen, saßen oder standen brav, sauber angezogen und fast ehrfürchtig in die Kamera blickend da. Wolfgang war größer und älter als wir. Er stand am oberen rechten Rand, wirkte lässig und blickte finster. Er hatte eine graue Strickjacke an, seine Haare waren ungekämmt und er hatte keine Schultüte. Für uns war er ein Sitzenbleiber, ein ganz Dummer, der nicht mal die 1. Klasse geschafft hatte. Und wir hatten Angst vor ihm, weil er ein Raufbold war.
Als nächstes Bild erschien, wie wir jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn zunächst neben unseren Plätzen stehen bleiben mussten. Fräulein Maus ging durch unsere Klasse. Wir mussten ihr, während sie die Reihen entlang schritt, unsere Hände zeigen und ein sauberes Taschentuch vorweisen. Beides inspizierte sie sehr genau. Und wehe, jemand von uns hatte schmutzige Hände, gar Trauerränder unter den Fingernägeln oder ein schlampiges Taschentuch, der bekam es mit dem Bambusstäbchen zu tun. Fräulein Maus war da nicht zimperlich, ein kurzer Schlag genügte. Wenn sie ihren Rundgang beendet hatte, durften wir uns alle setzen. Es wurde gebetet und dann begann der Unterricht.
Wenn man geschlagen wurde, durfte man sich nicht anmerken lassen, dass der Schlag wehtat. Diejenigen, die dies nicht schafften und weinten, wurden in der Pause sehr oft von den Raufbolden der Klasse bös geärgert. Wolfgang wurde oft von ihr geschlagen. Das Weinen hatte er sich wohl irgendwann abgewöhnt. Im Pausenhof war er anfänglich der Anführer der Raufbolde.
Mein nächstes Bild: Wolfgang mit gebeugtem Kopf in der Bank neben mir. Die linke Hand unter seinem linken Oberschenkel festgeklemmt, vor ihm auf dem Tisch ein Heft liegend und einen Stift in seiner rechten Hand. Fräulein Maus steht drohend mit dem Bambusstäbchen vor ihm und sagt leise und sehr scharf „Du schreibst jetzt mit der schönen Hand, wie alle anderen Kinder auch.“ Der ganze Kerl zitterte. Wer dies außer mir wahrnahm, weiß ich nicht mehr. Im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill. Die Meute der Raufbolde wartete auf Tränen von Wolfgang. Die Ängstlichen hatten ihre Köpfe gebeugt und hofften nicht aufzufallen. Ich gehörte zu denen, die Angst hatten. Damals hatte ich große Mühe, ordentlich zu schreiben. Ich kann mich noch gut an meine Bemühungen und an die Tadel von Fräulein Maus erinnern. Sie hat mich aber deswegen nie mit dem Bambusstäbchen bedroht.
Meine Mutter und meine ältere Schwester sind beide Linkshänderinnen. Meine Mutter ging in den 30ern in eine Dorfschule und wurde ebenfalls gezwungen, rechts zu schreiben. Sie hat uns oft erzählt, wie sehr sie darunter gelitten hat und welche Mühe ihr das Schreiben heute noch macht. Als eine Lehrerin meine Schwester dazu zwingen wollte, ist meine Mutter zuerst zu der Lehrerin und, weil dies nicht geholfen hat, zum Rektor gegangen. Danach durfte meine Schwester ihre linke Hand benutzen. Wolfgang hatte niemanden, der sich für ihn einsetzte.
Der Rest der mir bekannten Geschichte von Wolfgang ist schnell erzählt. Er lernte während unseres gemeinsamen Schuljahres nicht, mit rechts zu schreiben. Aus dem anfänglichen Raufbold, vor dem alle Angst hatten, wurde ein Einzelgänger, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Weil er wieder nicht versetzt wurde, kam er in die Sonderschule. Ich habe ihn dann nie mehr wieder gesehen.
In den 80ern während eines Klassentreffens haben wir in einer kleinen Runde unser Klassenbild angeschaut und uns gefragt, was wohl aus denen geworden ist, die nicht zum Treffen kamen. Eine Klassenkameradin, die im gleichen Haus wie Wolfgang gelebt hatte, hat uns erzählt, dass seine Mutter bei der Geburt ihres zweiten Sohnes gestorben ist. Wolfgang war damals zwei oder drei Jahre alt. Der Vater war laut ihrer Aussage ein rauer Mann, der seinen Sohn oft geschlagen hat.

© Margit Peip

Erschienen in Anthologie - "Dr. Walter und Emma Peel" - ISBN 9 783738 62975


Gerechte Strafe?
 
Seit etwa 200 Jahren wird erzählt, dass eine Frau auf der Hochzeit ihrer Tochter freiwillig glühend heiße Eisenschuhe angezogen und bis zu ihrem Tode getanzt hat. Viele von uns denken noch heute, dass dies einer guter Ausgang der Geschichte ist. Die schöne Junge erhält ihren Prinzen und kann mit ihm bis zum Ende ihrer Tage glücklich leben. Die böse Alte erhält ihre gerechte Strafe.
Was wird uns berichtet, damit wir zu einem solchen Urteil gelangen? Es ist die Geschichte zweier Frauen. Schneewittchen und ihrer Stiefmutter, beide von sagenhafter Schönheit. Der Älteren, einer Königin, wird nachgesagt, dass sie sehr eitel ist und einen Spiegel besitzt der ihr immer wieder sagt, dass sie die Schönste im Lande sei. Als die Tochter sieben Jahre alt wird, nimmt sie der Mutter, laut Spiegel, den 1. Rang im Wettbewerb der Schönen ab. Dies zerfrisst die Ältere so von Neid, dass sie einen Jäger beauftragt ihre Tochter umzubringen. Zum Beweis seiner Tat soll er ihr Lunge und Leber des Mädchens bringen. Der Jäger erbarmt sich und lässt das Mädchen fliehen. Die Königin isst genussvoll die Innereien eines Frischlings, um im Anschluss festzustellen, dass sie betrogen wurde. Also macht sie sich selbst auf den Weg, um das Mädchen bei den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen zu töten. Mit Hilfe angeblicher Zauberkünste versucht sie es dreimal, scheitert und muss bei der Hochzeit ihrer Tochter – wie oben berichtet - in glühend heißen Schuhen tanzen - bis zu ihrem Tode.
Eine Mutter trachtet also nach dem Leben ihrer Tochter. Die zwei Erzähler bieten uns für diese Tat als einziges Motiv den Neid der Älteren über die erblühenden Schönheit der Jüngeren. In der Urfassung des Märchens ist es die Mutter, die Stiefmutter wird erst in der zweiten und allseits bekannten Fassung eingeführt. Wir sollen glauben, dass die Eitelkeit einer erwachsenen Frau reicht, um einen Mord zu begehen. Wie der Neid wächst und gedeiht, welche Hintergründe zu einem solchen Finale führen, wird nicht erläutert. Wir werden von den Erzählern mit unserer Phantasie alleine gelassen. Wir können uns also fragen, was eine Mutter so neidisch machen kann, dass sie ihrer siebenjährigen Tochter nach dem Leben trachtet? Warum gerade in diesem Alter, hin zum Ende der ödipalen Phase?
Zwangsläufig taucht hier die Frage nach dem Vater auf. In der Urfassung wird er gar nicht erwähnt. In der allgemein bekannten Erzählung nimmt er nach dem Tod der leiblichen Mutter die „böse“ Stiefmutter zur Frau, erscheint dann aber in der weiteren Erzählung nicht mehr. Wir erfahren weder etwas über die Ehe, noch über die Familienverhältnisse. Hat der König möglicherweise seiner Frau nicht genügend und seiner Tochter umso mehr Aufmerksamkeit geschenkt? Er wäre nicht der Erste mit inzestuösen Neigungen. Dann wäre er aber mit auf die Anklagebank zu heben. Soll hier etwas vertuscht werden? Wenn ja, von wem und warum?
Angenommen es gäbe ein solches Geschehen, gäbe es erste Ansätze die „Mordlust“ der Mutter zu erklären. Vielleicht sieht die Mutter, dass Vater und Tochter sich sehr zugetan sind und ist eifersüchtig ... oder ... sie weiß um den Inzest, schämt sich, weil sie nichts dagegen getan hat ... oder ... sie gibt der Tochter die alleinige Schuld ... oder ... sie will durch das spurlose Verschwinden einen Skandal verhindern. Leider werden wir im Ungewissen gelassen.
Kommen wir zu Schneewittchen selbst. Sie wird von den männlichen Erzählern als liebreizendes und letztlich unschuldiges Opfer dargestellt. Ob sie klug war, erfahren wir nicht. Wenngleich sehr schön, wirkt sie doch sehr blass in der Geschichte. Sie findet, nachdem der Jäger sich ihrer erbarmt hat, in einer einsamen Bergregion Unterschlupf bei sieben Zwergen, die nach Erz im Bergwerk suchen. Jung und schön wird sie da viel Bewunderung erfahren haben. Immerhin wird erzählt, dass sie einmal im Bett eines jeden Gesellen gelegen hat. Wie sollen wir das deuten?
Was spricht dagegen, wenn sie sich selbst mit Mieder und Kamm herausgeputzt hat und dabei unachtsam war.
Mal angenommen, sie wäre bulimisch gewesen - was bei oben vermuteten Geschehnissen durchaus möglich sein könnte - und hat in ihrer Gier, den Apfel so schnell in sich hineingestopft, dass er ihr im Hals stecken blieb. Es könnte sein. Wenn die ersten Zweifel aufgekommen sind ...
Dass die Erzählung Lücken hat, ist ebenso unzweifelhaft belegt, wie, dass die Leser und Leserinnen nur in eine Richtung denken sollen.
Aber selbst wenn die Mutter all diese Dinge getan hätte - den Jäger zum Mord angestiftet, der Tochter den Riemen um den Leib geschnürt, den Kamm in das Haar gesteckt und den vergifteten Apfel gegeben hat - legitimiert dies in meinen Augen zu keiner Zeit irgendeinen Menschen, irgendeine Institution zu einer solch grausamen Folterung bis zum Tode. Über eine andere Form der Bestrafung können wir gerne nachdenken.
Doch - was ist die Absicht der zwei Autoren? Warum wollen sie uns glauben machen, dass der Königin eine gerechte Strafe widerfahren ist?
(c) Margit Peip

Erschienen in Anthologie - "Grimmige Märchen" - ISBN 978-39815715-0-9